»Ein Lieblingsplatz. Manchmal findet man so einen Platz in der Sprache, in den Geschichten, zum Beispiel in "Das Mädchenbuch" von Sven Amtsberg. Eine originäre, poetische Prosa, die die Tiere, die in einem wohnen und schlummern, heraufbeschwört und aufschreckt. Eine Sprache, die zwischen den Zeilen Menschen erfindet, die sich in das Fühlen und Denken des Lesenden einschreiben. In dessen Kopf verdichtet sich das Unausgesprochene zur Eigenwelt - es entsteht ein Geheimbund zwischen der Erfindung des Lesers und dem Autor, der sie durch das Verschweigen evoziert. Egal, wo man sich aufhält, man gerät bei der Lektüre an Orte, in denen man sich wieder entdeckt, und weil man "Dort" auf einmal nicht mehr allein ist, verlieren sie ihren möglichen Schrecken. Es wird klar, dass "Dort" noch mehrere sind, dass man das teilen kann. Ich habe "Das Mädchenbuch" von Sven Amtsberg unter dem Drachenbaum verschlungen. Es war eines der Heimaterlebnisse, dass die eigenen vier Wände in Vergessenheit geraten lässt, oder sie überflüssig macht, weil eine Rückkehr ausgeschlossen wird.«

Tim Staffel, WELT




DAS MÄDCHENBUCH

Kurzgeschichten



»Wenn sie sagt, daß sie ein Vogel sein möchte, lache ich natürlich nur und möchte ihr am liebsten ihre Scheiß Romantik in die Haare schmieren. Aber ich halte mich zurück. Lösche nur die Kerzen und ziehe mich aus. Nackt ist das alles immer noch leichter zu ertragen als angezogen. Meist zieht sie sich dann auch aus. Schweigt endlich, und wir schlafen miteinander. 


Danach ist dann erst mal Ruhe. Wir haben es uns angewöhnt, hinterher nicht mehr miteinander zu reden. Sie hat aufgehört zu fragen, ob es schön für mich war, und ich habe sie noch nie danach gefragt. Mir ist es egal. Wir liegen verschwitzt nebeneinander und rauchen Zigaretten. Sie hat früher auch nicht geraucht. Ich habe sie erst dazu gebracht. Habe sie süchtig gemacht. Abhängig. Jetzt raucht sie mehr als ich. Und ich glaube, sie ist mittlerweile froh, daß das mit dem Miteinanderschlafen nicht allzu lange dauert. Sie schnell wieder rauchen kann. Ich glaube, sie raucht lieber, als daß sie mit mir schläft. Und ich muß zugeben, ich kann sie da verstehen.


Sie sagt in letzter Zeit auch nicht mehr so häufig, daß sie gerne ein Vogel sein möchte. Oder so andere romantische Sachen. Das habe ich ihr abgewöhnt. Wenn man es genau nimmt, sagt sie in letzter Zeit eigentlich fast gar nichts mehr. Nur noch die nötigsten Dinge, auf die es in einer Beziehung ankommt. Ist noch Klopapier da. Deine Mutter hat angerufen. Du riechst. Und ich finde, das reicht auch. Ich möchte kein Vogel sein. Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, daß die Katze ein Pferd ist. Ich brauche keine Romantik zum Leben. Im Grunde möchte ich nur mit ihr schlafen und rauchen. Das reicht mir. Man muß nicht überall Sahne draufmachen. So tun, als wäre das Leben schön. Rosa. Hauptsache man ist gesund, und es geht einem gut. «


(»SCHEISS ROMANTIK«)





Sven Amtsberg »Das Mädchenbuch«. Kurzgeschichten. Rowohlt-Verlag, Reinbek.