DIE WAHRHEIT 

ÜBER LÜBECK

STADTFÜHRUNGS-ENTERTAINMENT



Nichts, was Sie in dieser Stadtführung über Lübeck erfahren, stimmt. Alles ist erstunken und erlogen. 


Aber was soll man auch machen, wenn es Bauwerke und Plätze gibt, die zwar wunderwunderschön sind, aber an denen nie etwas von Bedeutung geschehen ist? Eben. Es geht darum, genau diesen Orten eine Geschichte zu geben – denn was können sie dafür, dass das Zeitgeschehen sie einfach ignorierte, und sie ein Dasein im Schatten des Holstentors und all der anderen berühmten Bauwerk fristen müssen. Wir wollen gerade diesen historischen Nichtsnutzen Beachtung schenken.


Es ranken sich ja viele Mythen um Lübeck – diese Schmuckschatulle des Nordens. Erdacht und erbaut von den Manns, und später dann von Günter Grass Blechtrommelfarben angemalt, so sagt man. Oder ist Lübeck in Wahrheit nur ein städtebauerisches Husarenstück und ist in Gänze dem Entree eines Freizeitparks nachempfunden? Und was hat es eigentlich mit dem ganzen Marzipan auf sich – diesem Mett für Akademiker? Vielleicht werden bei dieser Führung diese Fragen geklärt? Vielleicht aber auch nicht.  


In diversen Veranstaltungen führt der Schriftsteller Sven Amtsberg mit wechselnden Kollegen durch verschiedene Stadtteile Lübecks. Jede dieser Führungen gibt es nur genau einmal. Im Stile einer Stadtführung werden dabei Geschichten über Bauwerke und Orte erzählt, die allesamt zwar wahr sein könnten, es aber nicht sind. 

Wir sehen hier das erste Hansemuseum, das dann doch noch wesentlich kleinteiliger daherkam. Trotzdem spürt man auch schon hier die Liebe und die Sorgfalt mit der Lübecker Geschichte seit jeher vom Hansemuseum aufbereitet wird.


Ein Fenster, dessen Hintergrund man meerfarben angestrichen hat. So naturgetreu, dass der Betrachter fast schon glaubt, er schaue da tatsächlich hinaus auf die offene See. Dazu eine nahezu originalgetreue Nachbildung des ersten Lübecker Schiffes, sowie zweier Pflanzen, wie sie früher ganz typisch waren für die hiesige Vegetation. »Hibiskus Lübeckus« genannt.


Hans-Peter Hanse, der Gründer des Hansemuseums, hatte damals nicht viel Geld. Noch verfügte er über nennenswerte Talente. Er konnte Tiergeräusche mit seiner Bauchdecke erzeugen. Jedoch der Versuch eines Zoos für Blinde scheiterte kläglich. 


Aber was Hans-Peter Hanse auszeichnete, war dass er zentral wohnte. Ein Fenster, an dem viele Leute vorbeikamen. Man kannte das Fenster in der ganzen Stadt, war es doch eins der schönsten Fenster überhaupt, und trotzdem – der Lübecker mied dieses Fenster anfangs. Man hatte ein mulmiges Gefühl, was Hans-Peter Hanse betraf. »Trust nobody« hatte nachts wer darunter geschrieben. Vielleicht lag es an Hanse, der viel zu oft dort bei offenem Fenster mit freiem Oberkörper lag und Vorbeiflanierenden zuwinkte. Zumindest der Geruch, so sagt man, erinnerte da schon daran, wie Schiffe untenrum riechen. 


Doch Hanse war pfiffig. Nur aus Speiseresten baute er diesen Dreimastschoner. Aus Dingen, die er sich größtenteils von der Straße zusammenklaubte und selbstgemachtem Leim – fragen Sie besser nicht weiter nach, wie er das machte. 

Aber die Leute waren begeistert. »Ein Schiff«, sagten sie. »Ein lustig riechendes Schiff. Hanse. Hanse. Olé.« 


Angestachelt von dieser Begeisterung, wuchs Hanse über sich selbst hinaus. Malte den Hintergrund eben so täuschend echt meerfarben an, empfand den Boden aufwändig der Realität nach – heller, weißer Traveboden, pflanzte dort jene Wasserpflanzen in den Farben des Lübecker Stadtwappens. Bei alledem gab er sich so viel Mühe, ging mit so viel Liebe zum Detail zu Werke. Doch damit noch lange nicht genug: Meist saß Hans-Peter Hanse selbst hinter dieser blauen Pappe und ahmte Meeresgeräusche nach, schrie wie eine dicke Möwe. 


Es war also kein Wunder: Immer mehr Menschen zog dieses Fenster an. Familien kamen, picknickten davor. Ruhrgebietler machten gar Urlaub hier. 

Irgendwann kamen viel zu viele. Man sah kaum noch etwas von Schiff und Fenster. Schließlich mietete Hans-Peter Hanse eine Garage in der Nähe an. Dort stellte er aus alten Fahrrädern bedeutende Seeschlachten nach. Seine Eltern verkleidete er als Piraten, und bedeutete ihnen tagsüber dort still zu stehen. 


Weitere Garagen folgten. Die Exponate wurden aufwändiger. Aus rasierten Tieren beispielsweise baute er das Lübeck des 12. Jahrhunderts originalgetreu nach. Und immer mehr Leute kamen. Immer mehr. Aus der ganzen Welt, und der Rest ist Geschichte. 


Später baute man ein schönes Gebäude um die Garagen. Doch sieht man ganz genau hin, wird man feststellen, dass der Kern des Hansemuseums immer noch eine handvoll Garagen sind. Glauben Sie mir. Bitte.